V2X Suisse: Bidirektionales Laden als aktiver Beitrag für die Netzstabilität

21.10.2025 PerspectivE
Das Projekt V2X Suisse zeigte erstmals in grossem Massstab, wie 50 Carsharing-Elektroautos nicht nur Strom laden, sondern auch ins Netz zurückspeisen. Bidirektionalität macht die Fahrzeuge zu flexiblen Kraftwerken, die Frequenzschwankungen ausgleichen und so zur Stabilität und Versorgungssicherheit im Schweizer Stromsystem beitragen können.
Gastautorin
Dr. Anna Roschewitz
Geschäftsführerin, Roschewitz Beratung und Mandate
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Die Schweiz steht vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits steigt die Nachfrage nach sauberem Strom durch Elektromobilität, Digitalisierung und Wärmepumpen. Andererseits wird die Stromproduktion zunehmend volatil, da Wind- und Solarenergie wetterabhängig einspeisen. Netzbetreiber müssen zunehmend Frequenzschwankungen und Lastspitzen in Echtzeit ausgleichen, um Netzstabilität und Versorgungssicherheit zu garantieren.

Hier setzte V2X Suisse an: In einem gross angelegten Demonstrationsprojekt wurde getestet, wie bidirektionale Elektroautos in der Praxis nicht nur Strom verbrauchen, sondern als mobile Speicher auch Strom ins Netz zurückspeisen können. Damit wird intelligente Elektromobilität zum aktiven Teil des Energiesystems.

Wer und was steckt hinter V2X Suisse?

V2X steht für «Vehicle-to-Everything» – also die Fähigkeit, Energie und Daten zwischen Fahrzeugen und ihrer Umgebung auszutauschen. Im engeren Sinn wurde im Projekt «Vehicle-to-Grid» (V2G) umgesetzt: die bidirektionalen Stromflüsse zwischen Fahrzeugen und Stromnetz.

Insgesamt wurden schweizweit 50 bidirektionale Honda e und 40 Ladestationen an öffentlichen Standorten in das Carsharing-Netz von Mobility integriert.

Das Projekt wurde von sieben Partnerfirmen getragen:

  • Mobility als Carsharing-Anbieter, der Fahrzeuge bereitstellt
  • Honda Schweiz mit serienreifen E-Fahrzeugen und Honda Power Manager
  • Honda R&D Europe für das Data Storage System
  • EVTEC mit bidirektionalen Ladestationen
  • Sun2Wheel mit der Cloud-to-Cloud-Steuerungsplattform
  • tiko als Aggregator, der Netzdienste bündelt
  • novatlantis für Projektmanagement sowie Wissens- und Technologietransfer

Die Fahrzeuge als Teil der Mobility Carsharing Flotte

Mobility mit ihren über 200’000 Kundinnen und Kunden bietet schweizweit an 1’500 Standorten mit über 3’000 Fahrzeugen Return-Carsharing an. Das heisst, ein Auto wird an einem Standort abgeholt, für das Mobilitätsbedürfnis genutzt und wieder am selben Standort zurückgegeben.

Bei einem Elektrofahrzeug (electric vehicle, EV) muss das Fahrzeug nach der Rückgabe an der Ladestation auf dem Standort-Parkplatz eingesteckt werden. Zu Projektbeginn verfügten mehr als 600 Parkplätze über eine Ladeinfrastruktur für Elektroautos. 50 dieser Parkplätze wurden für V2X Suisse mit bidirektionalen Ladestationen und dem Serienfahrzeug Honde e (vgl. Abbildung 1) ausgerüstet.

Bis Projektende hatten Kundinnen und Kunden mit den bidirektionalen Honda e bereits mehr als 800'000 Kilometer zurückgelegt. Wenn die Fahrzeuge jedoch nicht gefahren und auch nicht geladen wurden, standen die gepoolten Batterien als grosser virtueller Speicher für Netzdienstleistungen zur Verfügung.

Abbildung 1: Der Honda e mit Projekt-Logo und Branding (Quelle: Mobility)

Die technische Grundlage des bidirektionalen Ladens

Das Herzstück des Projekts ist die Bidirektionalität, also die Fähigkeit der Fahrzeuge, Strom nicht nur zu laden, sondern auch zurückzuspeisen. Dies beruht auf folgenden technischen Komponenten:

  • E-Fahrzeuge: Serienfahrzeuge Honda e mit werkseitiger CCS-2 Schnittstelle, bidirektional bis ±20 kW, integrierte steuerbare Lade- und Entladesysteme sowie Rückspeisefähigkeit nach Netzanforderung.
  • Bidirektionale DC-Ladestationen: EVTEC-Stationen (10 neu entwickelte, doppelte Due CCS, 2×10 kW) und 30 einfache Honda Power Manager (Single CCS, 10 kW). Ausgestattet mit Rundsteuerempfängern (für Netzbetreiber-Signale) sowie digitaler Schnittstelle zur Backend-Anbindung.
  • Kommunikation: Cloud-to-Cloud-Steuerungsplattform von Sun2Wheel. Kernfunktionen: Viertelstündliche Leistungsverwaltung je Fahrzeug, Synchronisation von Buchungsstatus, Ladebereitschaft und Flexibilitätsverfügbarkeit mit Aggregator (tiko) und Swissgrid (Übertragungsnetzbetreiber). Echtzeitregulierung von Lade-/Entladezyklen sowie Abrechnung.
  • Aggregator & Netzbetreiber: tiko aggregiert die verfügbaren Fahrzeugressourcen von Sun2Wheel und bietet Netzdienste wie FCR (Primärregelung, Reaktion innerhalb 2 Sekunden) & aFRR (Sekundärregelung) an Swissgrid an.
  • Nutzer- & Buchungssystem: Das System von Mobility stellt die EV-Verfügbarkeit aus den Carsharing-Buchungen bereit und koordiniert zwischen Nutzerbedarf (EV unterwegs) und netzdienlichen Einspeisungen (EV an Ladestation).

Diese technische Architektur der Systemkomponenten und Datenflüsse, welche in Abbildung 2 veranschaulicht ist, macht es möglich, dass jedes Carsharing-Fahrzeug als mobiler Stromspeicher fungiert.

Abbildung 2: Technische Architektur von V2X Suisse – von E-Fahrzeug über Steuerung bis ins Stromnetz (Quelle: Mobility)

Frequenzstabilisierung FCR und aFRR aus EV-Pool als Pionierleistung

Das Schweizer Stromnetz muss konstant bei 50 Hertz betrieben werden. Abweichungen können zu Störungen und im Extremfall zu Blackouts führen. V2X Suisse zeigt, wie Elektroautos zwei zentrale Dienste erbringen können:

  • FCR (Frequency Containment Reserve). Die Primärregelung erfolgt innerhalb von Sekunden.
  • aFRR (automatic Frequency Restoration Reserve). Die Sekundärregelung erfolgt innerhalb von Minuten.

Als Aggregator musste tiko belegen, die technischen Anforderungen für Primärregelleistung (FCR) und Sekundärregelleistung (aFRR) erfüllen zu können. Dazu mussten sogenannte Präqualifikationstests durchgeführt werden. Das Hauptziel der Präqualifikationstests ist der Nachweis, dass die dynamischen Anforderungen wie Reaktionszeit und Zeit bis zur Lieferung von 100% der Leistung erfüllt sind.

Fällt beispielsweise ein Kraftwerk plötzlich aus, sinkt die Netzfrequenz. Für FCR (vgl. Abbildung 3) muss die Aktivierung so bald wie möglich beginnen, spätestens aber 2 Sekunden nach einer Frequenzabweichung. Im Falle einer Frequenzabweichung von ±200 mHz sind spätestens nach 15 Sekunden mindestens 50% der vollständigen Kapazität bereitzustellen und spätestens nach 30 Sekunden 100% der vollständigen Kapazität.

Der Vorteil von E-Fahrzeugen ist das sehr schnelle Ansprechverhalten (Reaktionszeit < 2 Sek.) für FCR. Ergänzend eignen sich die Fahrzeuge auch für die mittelfristige Frequenzstabilisierung aFRR (Reaktionszeit < 5 Minuten) über mehrere Minuten. Konkret konnte das gesamte schweizweite System von Softwareplattform, Ladestationen, E-Fahrzeugen und bidirektionalen Batterien in weniger als zwei Sekunden auf ein Signal reagieren, um Netzschwankungen auszugleichen.

Dies ist eine technische Pionierleistung des Projektes. Der Flexibilitätsaggregator tiko erfüllte die technischen Anforderungen der Schweizer Netzbetreiberin Swissgrid für Systemdienstleistungen für Primär- sowie Sekundärregelleistung. Dies war nicht nur eine Schweizer Premiere, sondern auch eine Weltpremiere, da erstmals mit einer dezentralen Flotte von bidirektional ladenden Elektroautos in einem Carsharing-Pool mit CCS-Combo2-Standardsteckern Cloud-to-Cloud die Anforderungen für Systemdienstleistungen erfüllt wurden.

Abbildung 3: Leistungsverlauf einer Frequenzabweichung von -200 mHz für Lieferung von Primärregelleistung FCR (Quelle: Swissgrid)

Potenzial für das Schweizer Stromnetz

Das Projekt zeigte eindrücklich nicht nur die grossflächige technische Umsetzung in der Praxis auf, sondern auch, welches Potenzial in (Carsharing-)Flotten steckt:

  • Jedes Fahrzeug lieferte bis zu 20 kW Rückspeiseleistung.
  • Hochgerechnet auf die gesamte Mobility-Flotte von 3000 Fahrzeugen ergibt sich ein Potenzial von über 60 MW – genug, um die Leistung eines mittleren Wasserkraftwerks bereitzustellen.

Leistungsstärkere Batterien haben selbstverständlich ein grösseres Potenzial. In einem aktuellen Forschungsprojekt des Paketdienstleisters DPD werden daher bidirektionale Lastwagen zur Powerbank für Stromnetze (TEC-OFF). Die Batterien der E-Lastwagen dienen als Zwischenspeicher, um in Spitzenzeiten Strom ins Netz zurückzuspeisen und dieses zu stabilisieren. E-Lastwagen verfügen über Batterien mit einem Energieinhalt bis 1’000 kWh und einer bidirektionalen Ladeleistung von über 100 kW – ein Vielfaches von Elektroautos.

In diesem Sinne erfüllen bidirektionale Elektrofahrzeuge – ob Personen- oder Lieferwagen – nicht nur zukunftsfähige Mobilitäts- und Logistikbedürfnisse, sondern können auch aktive Netzdienste erbringen.

Wirtschaftliche Perspektiven

Neben der technischen Machbarkeit in der Praxis zeigte V2X Suisse auch wirtschaftliche Chancen auf. Generell betreffen diese einerseits neue Geschäftsmodelle für Flotten-Betreiber und andererseits einen Zusatznutzen für Netzbetreiber.

Die Quantifizierung des finanziellen V2X-Nutzens führte zu Resultaten von bis zu CHF 2'000.– pro Carsharing-Fahrzeug mit +/- 10 kW Lade- und Entladeleistung und Jahr. Dies ist als Maximalwert zu verstehen. Realistische zusätzliche Einnahmen für Mobility durch die Systemdienstleistungen liegen bei ca. CHF 600.– pro Fahrzeug und Jahr.

Die untersuchten Geschäftsmodelle zeigten jedoch, dass die Mehrkosten der V2X-Technologie aktuell mit den erwarteten Einnahmen nicht gedeckt werden können. Unter den derzeitigen technischen und regulatorischen Rahmenbedingungen gibt es folglich kein rentables Geschäftsmodell. Auch wenn der grossflächige Rollout aus wirtschaftlichen Gründen somit noch bevorsteht, eröffnet die Kombination aus Mobilitäts- und Energiemarkt in Zukunft ein völlig neues Wertschöpfungsmodell.

Herausforderungen und offene Fragen

Trotz aller Erfolge zeigte das Projekt V2X Suisse neben der mangelnden Wirtschaftlichkeit auch technische und rechtliche Hindernisse auf sowie Herausforderungen beim Nutzerverhalten.

  • Fehlende Standardisierung: Unterschiedliche Ladeprotokolle und Schnittstellen erschweren die Skalierung. Heute sind die Protokolle von Fahrzeugen, Ladestationen und Netzbetreibern nicht interoperabel [1].
  • Rechtliche Rahmenbedingungen: Die Vergütung von Netzdienstleistungen durch Fahrzeuge ist noch nicht eindeutig geregelt.
  • Akzeptanz bei Nutzern: Carsharing-Kunden müssen Vertrauen in die Technologie haben und sicher sein, dass ihre Fahrzeuge stets fahrbereit sind (SoC).

Fazit und Ausblick

Das Projekt V2X Suisse beweist, dass Elektromobilität nicht nur eine Herausforderung für das Stromnetz darstellt, sondern auch eine Lösung. Es setzte konsequent auf skalierbare und integrierte Cloud-Architektur und verzichtete auf lokale Aggregator-Hardware. Durch intelligente Vernetzung zwischen Carsharing-Dienst, Fahrzeug-Hardware, Ladeinfrastruktur, Aggregationsplattformen und Netzbetreibern entstand ein flexibles, netzdienliches Lade-Ökosystem.

Durch serienreife Fahrzeuge und bidirektionale DC-Ladesysteme (Hardware) sowie Cloud-to-Cloud-Koordination mit Automatisierung (Software) und dem Angebot von Netzdienstleistungen (FCR & aFRR) werden bidirektionale Elektroautos zu aktiven Stromspeichern, die Netzstabilität sichern und neue Geschäftsmodelle ermöglichen.

Das Konzept ist skalierbar und könnte in Zukunft nicht nur Carsharing-Flotten, sondern auch Unternehmensflotten und private Fahrzeuge einbeziehen. Auch wenn die aktuellen Rahmenbedingungen ein rentables Geschäftsmodell noch verhindern, sind angesichts von Diskussionen über Netzengpässe, Strommangellage und Netzausbau die Ergebnisse ein wichtiger Erfolg, der das Potenzial von bidirektionaler Ladetechnik unterstreicht.

Fussnote

[1] Der Hürde der fehlenden Standardisierung widmet sich Task 53 der IEA (International Energy Agency). Sie ist eine internationale Initiative, die sich auf die Interoperabilität von bidirektionalem Laden (Vehicle-to-Grid) konzentriert. Ziel ist die Entwicklung eines standardisierten Protokolls und die Förderung einer nahtlosen Integration von Elektrofahrzeugen in das Stromnetz durch Tests, Veröffentlichungen und Zusammenarbeit mit Industrie und Forschung. Die Initiative zielt darauf ab, die Kompatibilität zwischen Fahrzeugen, Ladestationen und Netzbetreibern zu gewährleisten.

Referenzen / weiterführende Informationen

Der Schlussbericht (deutsch) und Zusammenfassungen (deutsch, englisch, französisch, italienisch) sind auf der ARAMIS-Forschungsdatenbank der Bundesverwaltung (Texte zum Projekt) abrufbar. Die Projektnummer von V2X Suisse lautet SI/502316.

Weitere Informationen auf der Website von Mobility

Die Autorin dankt Pascal Barth (Mobility) für das Korreferat und EnergieSchweiz für die Unterstützung.

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